In längst entschwundenen Tagen lebten in fernen Ländern Hexen und Zauberer, ein gestiefelter Kater, mindestens ein böser Wolf, sieben Geißlein, Frau Holle und noch so viele mehr. Tapfere Schneider und Prinzen kämpften allen Widrigkeiten zum Trotz um die Gunst holder Prinzessinnen, die ebenso liebreizend wie schön waren. Flaschengeister erfüllten Wünsche. Küsse wahrer Liebe konnten dunkle und mächtige Zauberbanne brechen, Prinzessinnen erwecken und Frösche in Prinzen verwandeln. In 1001 Nacht rettete Scheherazade den blutrünstigen König mit der Kraft der alten Legenden und Geschichten von längst versunkenen Völkern vor sich selbst. Schier unglaubliches, zauberhaftes und magisches trug sich an verwunschenen Orten zu und stets kämpfte das Gute aufrecht, unbeirrt und unermüdlich seinen epischen Kampf gegen das Böse – unser Immunsystem vollbringt ähnliches.
Die Welt in der wir Leben ist nicht steril und wir sind es ebenso wenig. Die Biomasse aller Mikroorganismen auf der Erde ist größer als die der Pflanzen und Tiere, sehr viel größer. Alleine in unserem Darm tummeln sich rund 100 Billionen Bakterien die zu rund 1.000 verschiedenen Arten gehören. Auf jede einzelne unserer Körperzellen kommen rund 10 Mikroorganismen die in und auf uns leben. Wir sind umgeben vom Fremden, überwiegend schaden diese Mikroben uns nicht. Die Meisten sind harmlos für uns oder sogar hilfreich und von großem Nutzen. Ein vergleichsweise geringer Teil jedoch, ist für uns potentiell gefährlich. Diese Mikroorganismen vermehren sich nach dem Eindringen in den Körper auf dessen Kosten. Sie errichten ihr Imperium in den verschiedenen Geweben und zerstören diese, manchmal bis zum Tode.
Ich erwähnte es bereits an anderer Stelle: Ein intaktes Immunsystem ist kein sehr freundlicher Gastgeber für Fremdes. Wir besitzen ein angeborenes, unspezifisches Immunsystem und ein adaptives. Befinden sich Fremdorganismen an Stellen, wo sie besser nicht sein sollten, reagiert prompt das angeborene Immunsystem. Dessen Zellen phagozytieren die Erreger sowie die befallenen Zellen. Die natürlichen Killerzellen erkennen durch Erreger veränderte Körperzellen und induzieren deren Apoptose. Was bedeutet, dass die betroffenen Zellen einen ehrenhaften Selbstmord begehen. Bei Abwehr entsteht Entzündung als Teil der gesunden Immunantwort und des Heilungsprozesses. Da eine Entzündung zuvor gesundes Gewebe zerstört, sollte sie nicht übers Ziel hinausschießen, das Immunsystem greift hier regulierend ein. Oft reicht die unspezifische Abwehr aus, falls nicht, krempelt das adaptive Immunsystem seine Ärmel hoch.
Das adaptive Immunsystem ist nachtragend, sogar sehr und echte zweite Chancen liegen nicht in seiner Natur. Im Vergleich zur angeborenen Abwehr reagiert dieses System langsam, die Reaktionszeit bemisst sich nach Tagen. Die spezifische Abwehr muss erst aufgebaut werden. Das adaptive Immunsystem mag auf den ersten Blick ein wenig behäbig und vielleicht auch pedantisch erscheinen, denn es lässt sich Zeit, ist exakt und prüft ganz genau, ob es wirklich gefragt ist.
Die spezifische Abwehr ist wahnsinnig gut vorbereitet auf mögliche Eindringlinge, die sie noch nie gesehen hat. Die B- und T- Zellen tragen jede einen einzigartigen Antigenrezeptor. Durch genetische Mischung und anschließender Selektion schützt es den Körper vor Eindringlingen. Ein gesundes Immunsystem hat sehr strenge Qualitätskontrollen, u. a. damit sich die Antigenrezeptoren nicht gegen unsere eigenen Körperzellen richten. Auch vorschnelle Immunreaktionen wären keine gute Idee. Die B- und T – Zellen kreisen durchs Blut auf der Suche nach ihrem „Gegenstück“, dem Antigen, das genau zu Ihnen passt. Die wenigsten werden überhaupt jemals fündig. Aber wenn ein raffinierter Krankheitserreger sich mit Hilfe seiner eigenen Trickkiste – zum Beispiel tarnen sich manche Streptokokken mit körpereignen Proteinen – am angeborenen Immunsystem vorbei gemogelt hat, erlebt er sein blaues Wunder, wenn er auf eine T- oder B- Zelle trifft, die schon ihr ganzes Leben auf ihn gewartet hat. Natürlich passiert noch so einiges mehr, schlussendlich werden aber innerhalb von Wochen Antikörper produziert, die wie der Schlüssel zum Schloss passen. Infiziert man sich ein zweites Mal mit demselben Erreger setzt die sekundäre Immunantwort ein und das recht zügig.
Sie ahnen oder wussten es bereits: Unser Immunsystem ist hochkomplex und auch kompliziert. Es funktioniert meist erstaunlich gut, ein solches System hat jedoch auch seine Schwachstellen. Eine davon trägt den biblischen klingenden Namen Antigenerbsünde. Aus seiner Erfahrung heraus kann das Immunsystem voreingenommen sein oder: knapp daneben ist auch vorbei. Hat man eine Grippe ohne Schaden überstanden, trägt man die entsprechenden Gedächtniszellen in sich, das Virus hat im Körper sozusagen Geschichte geschrieben. Viren mutieren, dies liegt einfach in ihrer Natur. Steckt man sich nun mit einer neuen Grippevariante an, erkennen die Gedächtniszellen das Virus als bekanntes Übel und reagieren nicht auf dieses. Zudem hindern sie gleichzeitig neue Zellen an der Reaktion. Das Immunsystem geht also davon aus, dass es den Erreger schon ganz genau kennt und es auch nichts mehr hinzuzulernen gibt, was nicht der Fall ist. Dieser Effekt kann sich beliebig oft wiederholen, bis eine Grippevariante auftaucht, die das Immunsystem überhaupt nicht einordnen kann und deshalb falsch reagiert.
Unser Immunsystem entwächst früh den Kinderschuhen. Wenn wir etwa sechs Jahre alt sind, ist es erwachsen. Dann hat es schon eine ganze Menge erlebt. Mutter Natur schuf mit dem Stillen für Säuglinge eine Möglichkeit die Abwehr gewissermaßen ein Stück weit „outzusourcen“. Mit der Muttermilch werden die immunologischen Erfahrungen aus der Gegenwart und Vergangenheit auf das Kind übertragen. Stillen scheint jedoch keine immunologische Einbahnstraße zu sein. Babyspeichel geht beim Stillen auf die Mutter über. Das mütterliche Immunsystem kann so auf Erreger reagieren, die es selbst gar nicht hat. Die immunologische Antwort wird wiederum mit der Muttermilch übertragen. Aber auch in der Natur gilt, dass viele Wege nach Rom führen und Babys, die nicht gestillt wurden, können ebenso starke Abwehrkräfte wie gestillte entwickeln.
Und während Sie diesen Blog gelesen haben, kreisen immunologische Erinnerungen unablässig durch ihren Körper und erzählen eine immunologische Geschichte, nämlich Ihre ganz eigene und solange Sie leben, werden dieser neue Kapitel hinzugefügt; denn die Welt in der wir leben ist nicht steril.