Als Kindern erzählt man uns Geschichten.
Ein wenig später lernen wir selbst welche zu lesen. Als Teenager schreiben wir vielleicht Tagebuch oder präsentieren ausgesuchte Schnipsel unseres Lebens auf Social Media. In der Schule beschäftigen wir uns mit der klassischen Literatur, Gedichten und Essays. Eines schönen Tages sind wir schließlich erwachsen. Es mag dann Momente geben, in denen unser Leben sich anfühlt, als liefe es nach dem Drehbuch einer Seifenoper ab; und zwar im fortgeschrittenen Stadium: der Bezug zum Grundthema ging irgendwie verloren und die Handlung erscheint zunehmend unrealistisch. Unser Verstand neigt dazu, die Fakten unseres Lebens zu einer Erzählung zusammen zu fügen. Haben wir einen „Knoten im Kopf“, beschäftigen wir uns auf der Suche nach einer Lösung, einem Ausweg womöglich mit unserer eigenen Geschichte, die unweigerlich mit der Geschichte unseres Umfeldes verwoben ist.
Unser Leben und unsere Welt sind voller Geschichten. Sie unterhalten, berühren und verbinden uns miteinander. Sie erklären und erschließen uns ein kleines Stück der Welt. Im Märchen und vielen Erzählungen, die zu Bestsellern und wahren Kassenschlagern werden, gibt es häufig drei klassische Rollen: den Tyrannen, den Retter und das Opfer. Im Märchen wären dies zum Beispiel die böse Stiefmutter, der tapfere Prinz und die liebreizende Prinzessin. Aber zurück zu den eigenen Geschichten: es ist gut, sie zu kennen und zu begreifen, denn gar nicht so selten haben wir selbst eine der drei klassischen Rollen inne.
Die Schamanen des amerikanischen Doppelkontinents werden auch als Erdenwächter bezeichnet. Aus ihrer Sicht träumen wir alle – und zwar im wachen Zustand – die Welt und unser eigenes Leben ins Dasein, was für mich sehr poetisch klingt. Träume bestehen nicht aus Sätzen, sondern aus Instinkten, Visionen, Bildern, Affirmationen und Gefühlen. Träumen bedeutet eine klare Absicht zu haben, eine Intention. Es geht dabei weniger um konkrete Ziele oder einzelne Puzzlestücke, wie einen neuen Job, ein paar Pfund weniger, oder die Renovierung des Hauses. Ein Traum meint vielmehr das große Ganze, denn kein Mensch kann die Schöpfung bis ins letzte kleine Detail kontrollieren. Ein mutiger Traum, im Sinne der Schamanen, entfaltet unser eigenes Potential, kommt tief aus unserer Seele und dem Herzen und wirkt sich auch positiv auf unsere Mitmenschen und die Erde aus. Denn die Schamanen haben größten Respekt vor der Natur und all den Geschöpfen, die sie hervorbringt. Aber wenn es so leicht ist, eine bessere Welt, ein erfüllteres Leben herbei zu träumen, warum tun wir dies dann nicht einfach?
Wenn Wunsch und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, spricht man in der Psychologie von Inkonsistenz. Die Erdenwächter bezeichnen das gleiche Phänomen als Albtraum. Nach der schamanischen Lehre träumen wir unweigerlich unser Leben und die Welt ins Diesseits. Sind wir in alten Geschichten verhaftet oder suchen wir nach der schnellen Lösung, nach Ruhm, Einfluss, Macht, Rache und enthält unser Traum nichts, was die Sehnsucht unserer Seele nach Sinn stillt, erschaffen wir einen Albtraum.
Im Schamanismus und der Psychologie gibt es einige interessante Parallelen. U. a. geht die Psychologie davon aus, dass nicht alle Gefühle, Gedanken und Glaubensätze unsere eigenen sind. In der Kindheit wird unser Gehirn, bzw. die Psyche „programmiert“. Die so entstandene Software bestimmt mit, wie wir unsere Geschichte betrachten, durch welche Brille wir das Leben sehen, ob wir eher vermeidend ängstlich oder fröhlich anpackend sind. Dem Schamanismus liegt die Vorstellung zugrunde, dass unser Körper wie eine zweite Haut, von einem leuchtendem Energie Feld (LEF) umgeben ist. Dieses Energiefeld strukturiert den Körper ebenso wie ein starker Magnet Eisenspäne auf einer Glasplatte in eine bestimmte Struktur bringt. Es bestimmt auch, was wir im Leben anziehen oder auch nicht. Das LEF ist also die „Software“, welche die Psychologie in unserem Gehirn verortet. Unsere alten unerledigten Geschichten sind in diesem Energiefeld gespeichert und schreiben sich somit in der Zukunft in veränderten Variationen neu.
Proteine sind die Bausteine unseres Lebens und die DNA enthält deren Bauplan. Letztere besteht lediglich aus vier Molekülen, den organischen Basen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T). Die Geschichte unserer Schöpfung besteht also im Grunde aus vier Buchstaben. Laut den Schamanen verfügt das LEF über einen ganz ähnlichen Code aus vier Symbolen, um unsere Vergangenheit zu speichern. Dieser besteht aus den vier Tiersinnbildern: Schlange, Jaguar, Kolibri und Adler.
Das leuchtende Energiefeld formt unser Verhalten, unsere Gefühle und Gedanken. Es ist das Werkzeug, mit dem wir die Welt ins Dasein träumen. Weil es aus Licht und Schwingung besteht, entsteht alles im Außen, was dort erzeugt wird. Sind die eigenen Geschichten damit unweigerlich in Stein gemeißelt? Aus Sicht von Alberto Villoldo – wohl einem der bekanntesten Schamanen unserer Zeit – lautet die Antwort: nein. Die Episoden unseres Lebens sind einzelne Teile, doch wir selbst sind viel mehr als nur die Summe unserer Geschichten. Wenn wir aufhören Retter, Tyrann oder Opfer zu sein, wenn wir mutig und kreativ träumen, können wir zum Helden unseres Lebens werden. Jeder Mensch hat mit seinem Leben ebenso Einfluss auf andere wie auch den Lauf der Dinge, im Guten wie im Schlechten. Und sei dieser Einfluss noch so klein, er hat eine Bedeutung, denn aus Kleinem entsteht mitunter Großes.
Ob die Geschichten, welche die Erdenwächter erzählen wahr sind? Nun, ich denke, niemand kann beweisen, dass sie wahr sind, und niemand kann beweisen, dass sie es nicht sind. Aber meiner Meinung nach haben unsere Gedanken, Affirmationen und Glaubenssätze durchaus eine gewisse Kraft. In der Psychologie spricht man übrigens von Selbsterfüllenden Prophezeiungen oder um es mit den Worten von Henry Ford zu sagen:
„Egal ob Du denkst, du kannst es oder Du kannst es nicht – in beiden Fällen hast Du Recht.“