Es heißt, man könne mit der Wahrheit lügen.

Hand aufs Herz: ich habe schon unerschütterlich – zumindest temporär – an so manche Unwahrheit geglaubt. Als ich im Kindergarten war, stellte ich meinen Eltern irgendwann die Frage, wo denn eigentlich der Teufel wohnt? Der Maßstab und die Komplexität meines damaligen geographischen Horizonts waren natürlich andere als heute; wobei: mit der Orientierung klappt es bis heute nicht so gut. Da Wuppertal die Stadt war, die für mich am Weitesten entfernt lag, antwortete mein Vater: „Der Teufel wohnt in Wuppertal“. Und schon war die Legende geboren. Wenn der Teufel in Wuppertal wohnt, dann ist dort auch das Ende der Welt, schlussfolgerte ich und stellte mir den Teufel neben einem Holzschild auf dem „Ende“ steht vor – ich bitte die Stadt Wuppertal höflich um Verzeihung. Im selben Alter wies ich meinen Vater darauf hin, dass ich mit meiner Mutter viel verwandter bin als er, was biologisch betrachtet extrem Sinn macht. Als ich Anfang 20 war, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass entgegen meiner Annahme nicht alle Männer per se gute Handwerker sind. Obwohl das, woran ich einst fest glaubte, objektiv betrachtet nicht der Wahrheit entsprach, war es doch meine Wahrheit, zumindest zeitweise und ich damit durchaus wahrhaftig.

Wahrhaftigkeit, so las ich, gilt inzwischen als veralteter Begriff. Wahrhaftigkeit kann als Wert bezeichnet werden und beschreibt eine innere Haltung zur Wahrheit. Ein Mensch, der wahrhaftig ist, strebt nach der Wahrheit. Die Überzeugung eines solchen Menschen muss nicht unbedingt objektiv wahr sein, es reicht, wenn diese Person von der eigenen Wahrheit überzeugt ist. Und apropos eigene Wahrheit: der Konstruktivismus – ein eigenes und komplexes Gebiet der Psychologie – geht davon aus, dass jeder die eigene Wirklichkeit konstruiert. Beeinflusst wird diese u. a. von persönlichen „Filtern“, wie zum Beispiel der Erziehung und den eigenen Erfahrungen. Eine objektive Wirklichkeit gibt es demnach nicht, wenn auch durchaus Fakten und Tatsachen.

Das Gegenteil der Wahrheit ist die Lüge, und Lügen ist die Königsdisziplin der Manipulation. Ebenso wie Wahrhaftigkeit als Begriff inzwischen nicht mehr zeitgemäß ist, so hat sich die gesellschaftliche Haltung zum Lügen gewandelt, so mein Eindruck. Eine gewisse moralische „Firewall“ ist schwächer geworden. Vielleicht gehen wir als Gesellschaft inzwischen pragmatischer mit dem Thema um. Lüge ist jedoch nicht gleich Lüge, und bestimmte Lügen halten mitunter soziale Strukturen zusammen. Da wäre zum Beispiel die Höflichkeitslüge. So manche Feier würde womöglich zum Spektakel werden, sofern die Beteiligten immer ihre eigene Wahrheit aussprächen. Dann wäre da noch Not- und Halblügen, die zum Beispiel angewendet werden, wenn Menschen unsere persönlichen Grenzen überschreiten und Wahrheiten von uns einfordern, die ihnen schlichtweg nicht zustehen. Das Ziel einer strategischen Lüge ist dagegen die bewusste Täuschung.

Die zunehmende Digitalisierung macht auch vor der Wahrheit nicht halt. Selbstmarketing ist die Vermarktung und Präsentation der eigenen Person und Fähigkeiten. Grob gesagt rücken wir unsere Schokoladenseiten in den Vordergrund und kaschieren das, was uns nicht so toll erscheint, was wir vielleicht sogar verbergen möchten. Im digitalen Zeitalter ist dies leicht, es wird irgendwie erwartet und kleinere Flunkereien gehören schon beinahe dazu. Gleichzeitig wünschen sich viele Menschen mehr Verbundenheit mit anderen. Damit diese echt ist und überhaupt erst entstehen kann, braucht es ein gewisses Maß an Authentizität. Einmal abgesehen von dem, was wir anderen von uns zeigen oder auch nicht, ist es inzwischen ein alter Hut, dass die Digitalisierung es deutlich einfacher und bequemer macht, Unwahrheiten zu verbreiten, auch ganz gezielt und „anonym“. Aber nur weil genug Menschen eine Lüge für bare Münze nehmen, wird diese nicht zur Wahrheit.

Wenn das Lügen in einem gewissen Maß inzwischen durchaus gesellschaftsfähiger ist und damit auch allgegenwärtiger in unserem Alltag, was macht das mit uns?

(Ur)Vertrauen ist eine der wichtigsten Zutaten für gesunde zwischenmenschliche Beziehungen. Zu Anfang einer neuen Beziehung braucht es durchaus an der ein oder anderen Stelle einen Vorschuss davon. Meiner Erfahrung nach haben die meisten Menschen ein gutes Gefühl dafür, ob eine Person ehrlich ist oder nicht. Wir nehmen wahr, ob unser Gegenüber authentisch ist. Ob das, was die Person sagt, auch zu deren Handlungen passt. Allerdings ist es zutiefst menschlich in der Hektik des Alltags den eigenen „Radar“ auch mal zu ignorieren. Geschickte Lügen in kleiner Dosis können jedoch unsere Wahrnehmung verschieben. Vielleicht stellt sich ein ungutes Gefühl ein, das man aber nicht immer genau einordnen kann. Und gerade wenn wir einem Menschen vertrauen, glauben wir so mancher Lüge. Wird eine Person über eine längere Zeit systematisch in Beziehungen angelogen und ihr Vertrauen damit missbraucht, kann es sein, dass diese Person an der eigenen Wahrnehmung zweifelt.

Um meine eigene Frage zu beantworten: Ich denke der eher lockere Umgang mit Lügen streut uns zunehmend Sand in die Augen und führt vielleicht langfristig dazu, dass wir eher einer Lüge glauben als der Wahrheit; einfach aus Gewohnheit. Eine Veränderung in kleinen konsequenten Schritten kann sehr wirksam sein, leider auch eine weniger gute. Dagegen lässt uns eine schlagartig größere Veränderung aufmerksam aufhorchen. Aber noch mal zurück zum Vertrauen und Beziehungen: Es lohnt sich die eigenen Lügen sorgfältig abzuwägen, denn man riskiert etwas sehr Wertvolles und vielleicht sogar endgültig – die eigene Glaubwürdigkeit.

Ganz egal, wie gut das eigene Bauchgefühl ist und wie aufmerksam wir sind. Niemand ist davor gefeit auch mal auf eine Lüge hereinzufallen, voreilige oder gar falsche Schlüsse zu ziehen, sich zu irren. Man schaut anderen Menschen immer nur vor die beiden Gehirnhälften.

Gute Lügen sind auf den ersten Blick in sich schlüssig, glatt, vielleicht unterhaltsam oder gar reißerisch und triggern uns emotional auch ganz gerne. Besonders glaubhaft sind die, die wahre Elemente enthalten. Die Wahrheit hingegen ist nicht immer bequem. Es braucht oft Zeit und Mühe und gelegentlich auch Mut, um jenseits vorgefertigter gesellschaftlicher und digitaler Meinungen nach ihr zu suchen. Sofern es eine „Physik der Wahrheit“ gibt, dann sind eine gewisse Lockerheit im Kopf, die Bereitschaft neue Erkenntnisse zuzulassen, das eigene Wissen stets als provisorisch zu betrachten und eigene Irrtümer ohne Scheu anzuerkennen wohl ein Teil von ihr. Für mich ist die Wahrheit häufig eine Art Puzzle, das man Stück für Stück zusammensetzt. Sie hat die Tendenz auch in Lügen an der ein oder anderen Stelle durchzuschimmern. Um sie zu finden, braucht es u. a. die richtigen Fragen und mitunter auch Zeit und Geduld. Auch, wenn man nicht nach ihr sucht, sind es manchmal Zeit und Zufall, welche die Wahrheit ans Licht bringen. Einfach so, ist er plötzlich da: der Missing-Link; selbst, wenn er nicht ins eigene Weltbild passt. Die Wahrheit muss nicht immer schockierend, sensationell oder spektakulär sein. Sie kann befreiend, bitter, überraschend, ernüchternd bis absolut langweilig, wenig kreativ, sehr lustig, tragisch und noch so manches mehr sein. Aber vor allem erscheint uns die Wahrheit paradoxerweise oft gar nicht so richtig glaubwürdig.

Oder um Max Frisch zu zitieren: „Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt sowieso niemand“.